Auf unserem Weg Richtung Atlas-Gebirge durchfahren wir die Stadt Azrou und landen so im Ifrane Nationalpark, der für seine Zedern bekannt ist. Wir bemerken den Höhenunterschied recht schnell, denn auf einmal liegt überall Schnee. Mehr als zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz. So wird diese Region hier auch genannt: Die kleine Schweiz Marokkos. Fast hätten wir uns wie zu Hause gefühlt, wäre da nicht noch ein entscheidender Unterschied: die Affen. Sie stehen neben der Strasse, laufen über diese, bringen die anreisenden Autos zum Stehen und kommen so zu Futter. Wir parken neben Picknicktischen im Wald und sind das erste Mal seit langem wieder absolut alleine. Mitten in der Stille des ersten Schnees. Auf den Bäumen sehen wir entspannte Affen, einer besucht uns kurz, als wir zu Abend kochen und zieht dann weiter. Am Morgen darauf begegnet uns ein anderer, riesiger Camper aus Deutschland: NeunTonnenFreiheit. Die Kleinfamilie ist auch für die nächsten drei Monate in Marokko unterwegs. Allerdings ist ihr Auto um einiges Off-road-tauglicher, als das unsere 🙂
Falsch abgebogen
Wir haben gehört, dass man heute in Guigou fliegen kann, also machen wir uns auf den Weg dorthin. Die Landschaft verändert sich schnell. Wir lassen den Wald hinter uns und befahren ein braunes Tal. Ein bisschen wie das Rheintal, nur eben braun und mit sehr viel weniger Städtchen und Dörfern. Dafür aber mit sehr viel mehr an der Luft gelagerten Zwiebeln. Gefühlt überall. In dieser Zwiebelhauptstadt angekommen biegen wir direkt einmal falsch ab und landen mitten im Suq. Das ist ein marokkanischer Markt, der einmal wöchentlich stattfindet. Rund um uns sind Stände mit Früchten und Gemüse, allerlei Teekannen, Matratzen, Teppichen und immer wieder ganz, ganz viele Menschen, die sich an und zwischen den Autos durchschlängeln. Irgendwann kommt noch ein Traktor entgegen, und jegliche, noch so kleine Bewegung vorwärts kommt zum totalen Stillstand. Stau ist nichts dagegen. Erst nachdem dann ein paar Zelte umgerückt wurden, ging es wieder vorwärts.
Zouhaïr Laaz
Unser Bus schafft es nicht bis zum Startplatz hoch, wir lassen ihn also stehen. Oben angekommen lernen wir mehrere Menschen kennen. Unter ihnen ist Zouhaïr Laaz, der Gründer des Club Crête Atlas. Er wird uns die nächsten Tage viel begleiten. Nachdem kein Flug an diesem Tag möglich ist, und wir von einem aus der Gruppe noch zu sich nach Hause eingeladen wurden, fahren wir nach Boulemane. Dort können wir auf dem Parkplatz neben dem Haus von Zouhaïr’s Familie bleiben.
Er ist 24 Jahre alt und sein Leben ist das Gleitschirmfliegen. Dieser Satz geht zwar sehr leicht von den Lippen, aber noch nie zuvor haben wir jemanden getroffen, bei dem dies so zutrifft. Er hat vor zwei Jahren begonnen, sich für das Gleitschirmfliegen zu interessieren. Studiert hat er Geographie und würde auch gerne einen Master in Meteorologie machen, der wird aber nicht angeboten. Sein Zuhause sind die Berge des mittleren Atlas. Die Vögel, die er seit jungen Jahren beobachtet, erweckten in ihm den Wunsch selbst fliegen zu wollen. Nachdem es ihm nicht gelang einen Heissluftballon selbst zu bauen (er musste sogar den Wasserstoff dazu selbst herstellen und alles war im Endeffekt zu instabil) stand das Gleiten auf seinem Plan.
In Marokko einen eigenen Schirm zu bekommen ist jedoch relativ schwierig (Zoll, Behörden, Versandkosten, etc.). So hat er sich seinen ersten also selber gebastelt. Er setzte sich Stunden lang mit der Theorie auseinander, entwarf seinen Schirm und sammelte alles Mögliche an Materialien. Somit wurden Stoffe von alten Regenschirmen und Zelten von Hand zusammengenäht und fanden eine neue Bestimmung. Und funktionierte es? Ja! Zwar nur wenige Momente und auch nur wenige Meter über dem Boden, an einem Seil, aber Zohair hob ab.
Von da an konnte ihn wohl nichts mehr halten. Er gründete den Club Crête Atlas und begann auch seinen Freund:innen das Gleiten beizubringen. Er kam zu einem richtigen Schirm und erkundete damit die Gegend rund um Boulemane für mögliche Startplätze. Und übte wahrscheinlich fast täglich das Groundhandling. Er hängte sich auch eine Aufrichtung in sein Zimmer, um damit verschiedene Manöver zu erklären. Sogar seinen eigenen Sicherheitskurs führte er über einem nahe gelegenen See durch. Dazu gehörten alle Manöver, die er zuvor auf YouTube recherchiert hatte. (Hier alles dokumentiert)
Nie mehr alleine in der Luft Dank Raja
Eines Tages beschloss er, dass er nicht mehr alleine fliegen wollte. Er wünschte sich eine regelmässige Begleitung. Die fand er in einem Wald. Dort entdeckte er ein Nest eines Raben und nahm ein Ei mit nach Hause. Es schlüpfte Raja. Zouhair zog sie von Anfang an selbst auf und sie hat ihr eigenes Zimmer draussen im Hof. Untertags ist sie unterwegs, kommt aber jeden Abend zurück. Und wenn er fliegen gehen will, kommt sie manchmal mit. Sie erkennt seinen Schirm, fliegt ihm nach, hat sich noch nie in den Leinen verheddert und setzt sich auch gerne auf seinen Arm – mitten im Flug! Es ist ein einmaliges und unglaubliches Erlebnis.
Wieder ganz am Anfang stehen
Wir sind fast eine Woche bei Zouhair. Abdellah – Mitglied Nummer 5 des Clubs – ist auch täglich dabei. Er ist eigentlich Imker, hat aber im Moment viel Zeit, da die Bienen im Winterschlaf sind. Die zwei sind jeden Tag mit uns unterwegs und zeigen uns die unterschiedlichsten Fluggebiete. Und üben mit uns unermüdlich das Groundhandling. Am Anfang ist es schwierig, der Wind ist stark und die Sprachen sind so unterschiedlich. Aber einmal mehr stellt sich heraus, dass wenn man zurückgeworfen wird auf die Basics einer Sprache, sich das Verständnis untereinander vereinfacht. Die zwei erklären uns mit Händen und Füssen, wie wir in welcher Situation zu reagieren haben.
Für mich (Bianca) ist das am Anfang alles sehr frustrierend. Alle um mich herum haben ihre Schirme so viel besser im Griff. Auch Luca lernt sehr schnell und kommt bereits bei den ersten Versuchen mit seiner gewohnten Leichtigkeit in die Luft. Ich habe Angst davor hinzufallen, und mir mein Knie weiter zu ramponieren. Das blockiert und ist bemerkbar. Alles geht langsamer und ich brauche recht viel Geduld mit mir selber. Etwas, was die anderen dafür unendlich viel zu haben scheinen. Egal wie ausweglos die Situation für mich erscheint, das Lachen hört nie auf, die Erklärungen auch nicht und irgendwann klappt es sogar für mich.
Luca fliegt einmal mit dem Raben Raja. Sie landet auf seinem Arm. Es klingt ein bisschen romantisch, ist spannend zu beobachten und nicht richtig zu begreifen. Die Realität ist allerdings auch, dass sie eben ein Vogel ist. Und Vögel picken gerne. Egal an was. Luca erzählt, wie er sie nach einem ersten Moment der Begeisterung eigentlich sehr schnell wieder loswerden wollte. Denn sie fing an an seinen Leinen zu hacken. Und an seinem Handgelenk, in seinen Arm, in seine Jacke. Leider war der Akku der Flug-Kamera leer, somit bleiben nur seine Worte, denen wir Glauben schenken müssen 😉
Alltäglicher Alltag
An den Abenden passiert eigentlich nichts mehr. Es ist spürbar, dass wir uns weit entfernt von „normalem“ Tourismus befinden. Normalerweise sind wir entweder in der Wohnung von Zouhair, mit Raja, und kochen Tajine (er erklärt uns wie), oder gehen irgendwo auf der Strasse noch etwas essen. Unser Vegetarismus, bzw. mein Veganismus wird zwar nicht immer sofort verstanden, aber immer sehr respektiert. Natürlich kommen auch Fragen dazu, aber die Gespräche daraus sind sehr angenehm. Auch die „Gendarmerie Royale“ dürfen wir besuchen. Sie wollen unseren Aufenthalt registrieren. Wir sind froh, dass die zwei Jungs sich darum kümmern.
Oft sitzen wir auch einfach nur in dem einzig beheizten Raum und sprechen über mögliche Flugpläne. Für den nächste Tag oder irgendwo in Marokko. Zouhairs Vater spielt nebenan Ottar – ein Berberinstrument. Wie eine Gitarre, nur eben doch anders. Luca versteht sehr schnell wie sie funktioniert. Zur Freude des Vaters kann er schon am ersten Abend mit ihm spielen.
Wir verlassen das Dorf nach einer Woche. Vielleicht kommen wir zurück. Wir konnten so viel von den Menschen hier lernen. Neben neuem Wissen zu unseren Gleitschirmen, haben wir von nun an auch etwas Arabisch und Berber in unserem Gepäck.
Liebe Bianca und Luca
Danke für die Zeilen und Bilder!
Es fehlen noch die Gerüche, dann wäre ich schon beinahe selber in Marokko.
Hebeds guet!